Talk im Kopfbau und die AFD

Eine konstruktive Idee, eine problematische Berichterstattung und politisches Kapital für den „wahren Volkswillen“ – Versuch einer kritischen Reflexion von K.-M. Brand

„Talk im Kopfbau“ ist ein neues Format, das von den Stadtteilmagazinen „Unsere Messestadt“ und „Take Off! Magazin“ gemeinsam entwickelt wurde – als Mittel des partizipativen Diskurses im Stadtteil an einem für die Stadtteilkultur in der Messestadt bedeutsamen Ort.

Das Setting
Ein wenig wie früher „Live aus dem Alabama“ – mit einem bunten Podium zu einem Thema aus dem Stadtteil, Möglichkeiten fürs Publikum zur direkten Beteiligung im Saal, einem Live-Stream mit eigener Möglichkeit, sich per Mail direkt mit Fragen an der Diskussion zu beteiligen. Eine ungeschnittene Aufzeichnung der Veranstaltung konnte dann noch zwei Wochen lang aufgerufen werden.

Die Auftaktveranstaltung
im März mit dem Thema „Wie viel Sicherheit braucht die Messestadt?“
Vorfälle rund um das Tötungsdelikt im Drogenmilieu im letzten Sommer, dazu Übergriffe mit Silvester-Böllern und Sachbeschädigungen an Jugendeinrichtungen der Messestadt haben bei vielen Bewohner*innen ein Gefühl der Unsicherheit hinterlassen. Eine sehr aufgeregte Diskussion in den Echo-Kammern von Facebook und Co. tat ein Übriges. AKIM führte in der Folge im Auftrag der Stadt eine Umfrage unter Bürger*innen und sozialen Einrichtungen durch. Das Ziel der Veranstaltung im Kopfbau war eine daran anschließende konstruktive Aussprache, bei der Probleme klar benannt, Überreaktionen auf beiden Seiten aufgezeigt, aber auch Lösungen gesucht werden sollten.

Das Podium

  • Rudolf Amon (Polizeiinspektion Trudering Riem)
  • Dina Bouskouchi (Interkulturelles Muslimisches Forum IMF)
  • Karl-Michael Brand (Jugendzentrum Quax/ECHO e.V.)
  • Gerhard Endres (Seniorenvertreter)
  • Philippe Leonpacher und Zoe Song (Jugendvertreter*innen)
  • Michael Wübbold (AKIM Allparteiliches Konfliktmanagement in München)

Moderation: Hans Häuser, Chefredakteur Take Off!-Magazin

Hintergrund
waren auch die Erfahrungen über 20 Jahre mit einem periodisch wiederkehrenden und dann immer wieder verschwindenden aufgeregten Diskurs um den „Brennpunkt“ Messestadt – bisher weder wirklich zutreffend noch in irgendeiner Weise hilfreich oder zielführend für die weitere Stadtteilentwicklung.

Der Verlauf
mit über 100 Gästen und 60 Streamer*innen, einer lebhaften Diskussion, die trotz vereinzelt schriller Töne sehr konstruktiv verlief – auf den ersten Blick ein wunderbarer Auftakt für eine neues Format…
Und die Erkenntnis, dass es natürlich Probleme mit Jugendkriminalität gibt (Hotspot sind die 13- bis 14-Jährigen), aber im normalen Durchschnitt der Gesamtstadt und die Messestadt eben kein Brennpunkt ist, sondern ein Stadtteil mit sehr vielen jungen Menschen, von denen die überwiegende Mehrheit sich konstruktiv verhält. Und eine kreative Runde zu vielleicht sinnvollen, jetzt noch nicht vorhandenen Möglichkeiten auch zwischen den Generationen. Interessant war zu sehen, wie schnell es zwischen völlig unterschiedlichen Akteur*innen manchmal funkt, wenn man sich in so einem Zusammenhang spricht. Alles in allem eine unaufgeregte, konstruktive Zusammenkunft auf dem Boden eines gewissen „Normalitätsgefühls“.

Die Nachricht
hängt in der Berichterstattung immer auch ab von der Pointierung, d.h. Gewichtung der Fakten. Und natürlich ist die eigentlich beruhigende Botschaft, dass hier eben nichts Sensationelles zu vermelden ist, keine attraktive Nachricht für die immer mehr in Konkurrenz zur Gerüchteküche der sozialen Medien agierenden Lokalredaktionen. So kommt es durch Auslassen von Passagen bei Zitaten und Auswahl von konkreten Beispielen aus dem Zusammenhang zu einer unheilvollen Mixtur von Nachrichten und Ansichten, die den Volkszorn bedient und die Auflage steigern soll. (vgl. TZ 10.3.23 und AZ 28.3.23)

Das Problem
Soziale Medien wurden in den letzten Jahren immer wichtiger als Faktoren des öffentlichen Diskurses. Grund dafür ist zum einen, dass sich zivilgesellschaftliche Akteur*innen und politische Parteien ihrer in zunehmendem Maße zur Kommunikation bedienen. Zum anderen liegt das auch daran, dass soziale Medien zu einem wichtigen Kanal für populistische Diskurse und zur Verbreitung extremistischer Inhalte geworden sind. “Alternative Fakten” und “Realitäten” gewinnen an Boden. Insbesondere bei Gruppen aus dem rechten politischen Spektrum.
Soziale Medien sind der ideale Nährboden zur Verbreitung von Verschwörungstheorien, weil „Fake-News“ innerhalb kürzester Zeit Millionen von Menschen erreichen können. Und bevor sie eindeutig widerlegt wurden, sind dank Echo-Kammern und Social-Bots die Lügen bereits in zahlreichen Köpfen fest verankert. Wie schon Mark Twain sagte: „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ Dazu kommt die Hemmungslosigkeit der strukturellen Anonymität. Man muss nicht mehr einstehen, für das, was man sagt. Der Kommunikationswissenschaftler Stephan Russ-Mohl bezeichnet Digitalisierung hier sogar als Gefahr für die Demokratie und einen Angriff auf eine informierte Gesellschaft, die die Basis für gelebte Demokratie auch im Kleinen darstellt. (Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde, Köln 2017)

Eine tolerante und kritische Gemeinschaft setzt aber freie individuelle Meinungsbildung und politische Willensbildung aller Menschen im Quartier voraus. Sie bilden sich eine Meinung darüber, wie die Gemeinschaft, die Stadt oder eben der Stadtteil, in dem sie leben, aussehen sollte und welche politischen Entscheidungen sie gutheißen oder aber ablehnen. (Vgl. dazu Bundeszentrale für politische Bildung) Spätestens hierfür muss seriöser Journalismus als „4. Macht im Staat“ noch mehr als bisher Orientierungspunkte für Meinungsbildung nach Faktenlage bieten.

Nach einer Zusammenstellung von Stephan Russ-Mohl umfassen die Qualitätskriterien des Journalismus unter anderem:

  • Vereinfachung bei Faktentreue
  • Objektivität im Sinn von angemessenen Auswahlregeln, Trennung von Nachricht und Meinung, Vielfalt der Blickwinkel, Fairness und Ausgewogenheit
  • Transparenz: Offenlegung der Bedingungen der Berichterstattung, Quellenkritik

Fragwürdig ist da schon eine überdimensionierte Pointierung: Die eigentliche Nachricht ist gar nicht so sensationell, sie wird nur durch geschickte Formulierung und neue Gewichtung „aufgewertet“.

Die Folge
An diesem kleinen Exempel lässt sich aufzeigen, dass hier ohne Not und leider auch ohne Verständnis für die möglichen Folgen der Verbreitung extremer politischer Inhalte in dem Anspruch, den “wahren” Volkswillen zu vertreten”, auf vermeintlich seriöser Ebene (Veranstaltung im Stadtteil und Berichterstattung in der Tagespresse) Vorschub geleistet wurde. Die AFD kann sich nun mit einem Antrag zu profilieren versuchen, der sich genau auf diese Gemengelage bezieht und der unter anderem (nämlich einigen tatsächlich in der Veranstaltung entwickelten strukturellen Vorschlägen) folgende Observations-Forderungen enthält:

  • Eltern auffälliger Jugendlicher sollten gezielt darüber informiert werden, dass sie Aufsichtspflichten haben und diese wahrnehmen müssen.
  • Das Jugendamt sollte Kontrollgänge vornehmen.
  • Die Eltern und andere auffällige Personen sind gezielt auf abzustellende Missstände anzusprechen.
  • Die sozialen Einrichtungen im Viertel sollten in Zusammenarbeit mit der Polizei ein Konzept erarbeiten, wie den offenbar z. T. „verwilderten“ Jugendlichen Grenzen aufgezeigt werden können und dies dann tun.

Als Ursachen für die konstatierte Schieflage im Stadtteil werden zum einen der Mix aus über 100 Nationen genannt, die hier leben, und großflächige Sozialwohnungsbauten mit fehlender Infrastruktur. (Unter Berufung auf den TZ-Artikel)

Zukunftsszenario der AFD: „Ohne sofortige Maßnahmen wird sich das soziale Klima weiter verschärfen. Es droht zudem der Exodus der Bürger, die schon längere Zeit in der Messestadt Riem leben, so dass in Kürze ein Ghetto im Sinne einer unregierbaren französischen Vorstadt entstehen könnte.“

Hier kann die selbsternannte „Volkspartei“ im Kleinen ihre Propaganda gegen Bausteine der Demokratie, wie Menschenrechte, Gleichheit, Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Freiheit in Stellung bringen und die üblichen Narrative der Angst wie das „realitätsfremde Experiment eines ideologiegetriebenen Multikulturalismus“ (Alice Weidel) bedienen.

… irgendwie schade, denn der Plan war ein anderer!

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