Messestadt ein Hotspot der Jugendkriminalität? – ein Blick auf die aktuelle Situation aus Sicht einer großen Kinder- und Jugendeinrichtung

„Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen“ (Aristoteles, 384-322 v. Chr.)

Der Vorwurf als solcher ist also nicht neu. Und wer schon länger in der Messestadt lebt und/oder arbeitet, der weiß um die alle Jahre sich periodisch wiederholenden Befürchtungen, die Messestadt könne zum sozialen Brennpunkt verkommen.
Diese sind ebenso wenig neu, wie die direkte Verknüpfung dieser Ängste mit dem Bild von aggressiven Jugendlichen auf den Straßen des Quartiers.

2006 ging es beim ersten „Shit-Storm“ noch stark um Preisverfall von Immobilien als Wertanlage durch zu viel sozialen Wohnungsbau.

2012 wehrten sich junge Menschen aus der Messestadt mit einem offenen Brief an die Presse unter dem Titel „Die Messestadt ist kein Ghetto sondern unser Zuhause!“ so erfolgreich gegen das Klischee von der „Gangsta-Mauer“, welches sie als unfaire Ausgrenzung empfanden, dass die Presse sehr differenziert aus verschiedensten Blickwinkeln das Leben im Viertel präsentierte und das Bild wieder geraderückte.

2016 gab es vor den Riem Arkaden einen folgenschweren und völlig indiskutablen Fall von Landfriedensbruch, der dem Stadtteil eine Null Toleranz Maßnahme der Polizei mit massiver Präsenz der Einsatzhundertschaft des USK (Unterstützungskommando) und ziemlich viel unerfreuliche Publicity einbrachte. Die Folge war natürlich Widerstand von Seiten der quasi unter Generalverdacht stehenden Altersgruppe.

Und nun boten eine Messerstecherei im Drogenmillieu und einige sehr ärgerliche Übergriffe in der Silvesternacht Nahrung für die sozialen Plattformen, die wiederum eine recht einseitige Berichterstattung in den klassischen Medien nach sich zog.

Trotz gegenteilig lautender Berichterstattung hat die Messestadt Riem nach einhelliger Meinung aller damit befassten Akteure (incl. Polizei) kein quartierspezifisches Jugendgewalt-Problem und ist immer noch ein vergleichsweise sicheres Viertel. Und München blieb übrigens auch 2022 auf dem Spitzenplatz der sichersten Großstädte in der Bundesrepublik und die Messestadt stellte hier keinen statistischen Ausreißer dar.
Niemand muss hier also Angst haben, von Gewalt betroffen zu sein.
Das lässt sich den Berichten von AKIM nach den ersten beiden Strategietreffen zum Thema gewaltfreie Messestadt entnehmen:
„Keine der beteiligten sozialen Einrichtungen war demnach selbst von Gewalt betroffen oder berichtet von Gewalterfahrungen ihrer Klientel.“
In München ist statistisch die Jugendkriminalität in den letzten Jahren tatsächlich antizyklisch leicht angestiegen, während sie im Bundesdurchschnitt etwas rückläufig war.

Allerdings zählt die Messestadt hier nicht zu den kritischen Vierteln.
Von den 16000 Bewohner*innen der Messestadt sind etwa 3500 im kritischen Alter zwischen 10 und 17 Jahren. Das bedeutet in einem sowieso schon sehr dicht bevölkerten Stadtteil liegt der prozentuale Anteil von Jugendlichen etwa doppelt so hoch wie in anderen Stadtteilen.
Es ist nur logisch, dass in absoluten Zahlen dann auch die Trefferquote bei Jugendkriminalität höher ist.

 

„Gleichwohl ist die Polizei Ziel von Provokationen und Angriffen durch eine kleine Gruppe von

jungen Menschen und hier besteht eine sich aufschaukelnde Dynamik. Bürger*innen äußern

Unwohlsein, weil sie diese Dynamiken beobachten und selbst z.T. von Sachbeschädigungen,

Diebstahl, Müll und respektlosem Verhalten betroffen sind.“ (AKIM Bericht)

 

Wir selbst bemerken in unseren Zusammenhängen im Viertel zunehmend folgende Probleme bei einigen Jugendlichen (und das ist eine kleine, aber laute Minderheit):

  • Einbruch schulischer Leistungen, Schwänzen, Schulwechsel
  • mangelnde Frustrationstoleranz
  • Depressionen
  • steigender Drogenkonsum
  • Konzentrationsstörungen, weniger Begeisterungsfähigkeit
  • Essstörungen (Magersucht, Binge Eating)
  • starke Gruppenbildung und -bindung:
    Während der Gruppenzwang Teenager seit Generationen beeinflusst, heben ihn die sozialen Medien auf eine ganz neue Ebene (Sexting, Mobbing)
  • Aggressionslevel früher hoch (ab 11 Jahren) – das Aggressionspotential steigt auch bei Kindern
  • die altersgemäße Entwicklung im sozialen Verhalten scheint bei einigen deutlich reduziert
  • die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen
  • die Übernahme falsche Vorbilder als den Medien
  • negative Gedankenwelten (z.B. Feindbild Polizei oder das Gefühl, abgehängt zu sein)
  • mädchenspezifische Probleme sind häufig:
    Schwierigkeiten, sich autonom zu beschäftigen und sozial miteinander zu interagieren.
    In der Folge entsteht ein stärkerer Bezug zu den Erwachsenen (allerdings sind die Mädchen auch oft stärker inhaltlich-thematisch interessiert)

Die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien waren bekanntlich von den Maßnahmen zum Corona-Infektionsschutz besonders stark betroffen: Hierzu zählen sowohl Aspekte der psychischen und physischen Gesundheit als auch der psychosozialen, sprachlichen und motorischen Entwicklung von Heranwachsenden.
Gerechte Bildungsmöglichkeiten sind während der Pandemie gesunken, die Kinderarmut ist gestiegen. Die soziale Isolation (die hier deutlich härter durchgesetzt wurde als bei Erwachsenen ohne Rücksicht auf evtl. Spätfolgen) hat bei jungen Menschen nachhaltig etwas verschoben – besonders bei Jugendlichen aus prekären Verhältnissen. Feste Strukturen brachen weg, soziale Kontrolle fehlte. Kitas und Schulen waren geschlossen oder liefen im Notbetrieb. Kontakte zu Freunden wurden stark eingeschränkt und Freizeitaktivitäten fielen fast komplett weg.
Auch hierin ist eine wichtige Ursache für momentane Probleme zu sehen.

Wofür nutzt nun eine Einrichtung, wie das Quax?
Quax ist eine Einrichtung für außerschulische kulturelle Bildung und hier ergibt sich zwangsläufig ein besonderer Beobachtungsfokus:

  • Bildung kann den Teufelskreis der Benachteiligung durchbrechen aber gerade in den letzten Jahren wird es wieder deutlicher, dass Bildungschancen und Lebensstandard sich oft wechselseitig bedingen. Wenn es z.B.am Geld für Ausflüge, kulturelle Veranstaltungen, Sport oder Musikunterricht mangelt, sind Kinder und Jugendliche in ihrem Erfahrungshorizont gegenüber denen eingeschränkt, deren Familien solche Dinge mühelos finanzieren und die nötige Betreuung und Begleitung bieten können. Hinzu kommt, dass das Fehlen außerschulischer Lernmöglichkeiten ihr Bildungsniveau erheblich einschränken kann. Kulturelle Teilhabe ist leider immer noch keine Selbstverständlichkeit
  • Anreize und Unterstützung durch die oft mit der Überlebenssicherung belasteten Eltern bleiben aus.
  • Das Problem der Kinder ist nicht vordergründig das Fehlen von persönlicher Ausstattung, sondern das Fehlen von Entwicklungsanlässen durch adäquate Anregungen und das Gefühl, nicht wertgeschätzt zu sein.

Wir bemühen uns um konkrete Anlässe für Jugendliche aller sozialen Gruppen im Quartier, gemeinsam am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Nötig sind dafür:

  • Angebote, die die Lebenswelt als Lernraum erschließen und Jugendlichen dabei helfen, aktiv Selbstbestimmung, Teilhabe und Gleichstellung als ihre Rechte wahrzunehmen und in Anspruch zu nehmen.
  • Das Bemühen, allen Kindern und Jugendlichen ein gutes und gesundes Aufwachsen sowie gleiche Lebenschancen unabhängig von ihrer (sozialen) Herkunft zu ermöglichen.
  • Partizipation – Kinder und Jugendliche von Beginn an aktiv zu beteiligen, bedeutet sie von Beginn an als vollwertige und kompetente Menschen anzuerkennen. Wir müssen für sie von Anfang an Rahmenbedingungen und Strukturen schaffen, in denen sie selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln, entscheiden und mitgestalten können.

Was bieten ECHO e.V. und das Quax hierfür Jugendlichen ganz konkret und seit vielen Jahren neben die obligatorischen niederschwelligen regelmäßigen Öffnungszeiten im Jugendcafé (mit Minecraft/Tablet, Kino, Billard, Tischtennis, Kicker, Dart etc.) sehr erfolgreich an?

  • Angebote der außerschulischen kulturellen Bildung mit Lebensweltbezug, die Bildung als Selbstbildung definieren, mit einem ganzheitlichen Ansatz arbeiten und zu eigenem kulturellen Tun ermutigen:
    Dafür gibt es eine große Anzahl von Einzelprogrammen aus den Bereichen Kunst, Medien, Musik, Theater, Film, Literatur, Ökologie, Zirkus, Spiel, Kino und erlebnispädagogische Aktionen.
  • Partizipation – z.B. Speakers Corner als Jugendrat mit Möglichkeit zur Programmmitgestaltung und Erarbeitung von „Specialangeboten“, Möglichkeiten zur selbständigen Raumnutzung, ein eigener Girls Club, verschiedene Partys/Events sowie ein Volunteer-System mit der Möglichkeit zur altersspezifischen Mitarbeit in den Projekten.

Bedürfnisorientierung in der Programmplanung spielt hier eine tragende Rolle: In den letzten Jahren entstanden so – inspiriert von den Wünschen der Zielgruppe – Tonstudio, Bandprobenraum, und Sport/Fitnessbereich. Die Mittel dazu hat der Verein zum Großteil außerhalb des städtischen Budgets selbst eingeworben.
Ebenfalls Ergebnisse dieser Politik von Partizipation und Planungsbeteiligung im Quax sind der Skate- Parcour oder der Unterstand und der Streetball-Platz im Riemer Park.

  • Inklusion und Integration – offen für alle, niederschwellig: z.B.: Come together! – Partyprojekt in Kooperation mit der offenen Behindertenarbeit, Inklusive Plätze im Ferienprogramm
  • Geschlechtsspezifische Angebote – Girls Club und Specials
  • Bewegungsförderung als offenes Angebot mit qualifizierter Anleitung – Bogenschießen, Tischtennis, Skateboardkurse, Zirkuskurse, Nightball, Sportgeräte, erlebnispädagogische Aktionen
  • Mobile Projekte – Kunst, Medien, Spiel, Action Bound
  • Politische Bildung – Speakers Corner, „Senf dazu!“ als Jugendplattform im Netz
  • Anlaufstelle im Jugendcafé in Krisensituationen mit Beratung und Weitervermittlung an Fachpersonen.

Allem zugrunde liegt das Prinzip der Freiwilligkeit, das die Basis von kultureller Bildung und offener Jugendarbeit darstellt, denn keine Leistung ist so effektiv wie die auf Freiwilligkeit beruhende. Dies impliziert aber natürlich auch, dass es Jugendliche gibt, die wir nicht erreichen können, weil sie nicht erreicht werden wollen.

 

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