Im Quax, Zentrum für Freizeit und kulturelle Bildung in der Messestadt gibt es seit vielen Jahren unter dem Titel „Speakers Corner“ eine Art offenen Jugendrat, in dem in regelmäßigen Abständen die Anliegen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Stadtteil besprochen werden und Wünsche für das Programm und die Öffnungszeiten der Einrichtung geäußert werden können.
In diesem Kontext entstand 2012 eine ganz besondere Initiative von fünf jungen Männern aus der Messestadt, die sich mit einem offenen Brief an die Presse unter dem Titel „Die Messestadt ist kein Ghetto sondern unser Zuhause!“ so erfolgreich gegen das Klischee von der „Gangsta-Mauer“ in der Berichterstattung wehrten, das sie als unfaire Ausgrenzung empfanden, dass die Presse sehr differenziert aus verschiedensten Blickwinkeln das Leben im Viertel präsentierte und das Bild wieder geraderückte.
Im letzten Strategietreffen zum Thema gewaltfreie Messestadt von AKIM wurde das Quax-Team wegen dieses Beispiels gebeten, doch zu versuchen, mit heutigen Jugendlichen aus dem Stadtteil über ihren Eindruck der momentanen Darstellung ihres Stadtteils zu reden und dies zu dokumentieren.
Zum Gesprächstermin im August fanden sich sechs junge Leute im Quax ein: Annabelle, Yannick, Daria, Marlene und zwei junge Männer, die anonym bleiben wollten, um keine Probleme mit der Polizei vor Ort zu bekommen. Die Teilnehmer*innen kamen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen.
Zum Einstieg wurden die Artikel aus tz, az und SZ verteilt und wir sahen uns gemeinsam einen Filmbeitrag des BR-Formates „Kontrovers“ an: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/kontrovers/kriminalitaet-junge-gewalttaeter-kontrovers-14-juni-2023_x-100.html
Es wurde zusammen ein Fragenkatalog entwickelt und darüber eine Stunde diskutiert und ein kleines Ergebnisprotokoll dazu angefertigt.
Hier die Zusammenfassung der Ergebnisse:
- Haltet ihr die Berichterstattung für realistisch?
Vor allem den Fernsehbeitrag finden wir total manipulativ: Dieselben Szenen kommen aus dem Zusammenhang gerissen mehrfach und werden mit Texten verknüpft, die mit den Bildern nichts zu tun haben (wie z.B. abgefackelte Möbel nach einem Zimmerbrand, die da zur Abholung standen). Mobbing und Rassismus sind allgemeine Probleme und die gibt es überall. Jugendkriminalität in Deutschland wird nur mit der Messestadt und das dann wieder mit dem Gefängnis verknüpft. Zum Teil altes Material wird genutzt, um Stimmung zu erzeugen.
Das ist nicht fair!
Die Messestadt wird in allen Berichten als „Problemviertel“ mit „Mord und Randale, Rauschgift, Gewalt und Vandalismus“ dargestellt. Es wird behauptet, dass die Messestadt Riem „seit Jahren als einer der Brennpunkte der Stadt“ gilt. Außerdem wurde die Anzahl der Kinder- und Jugendkriminalität in der Zeitung so dargestellt, dass man sich alleine nicht mal mehr auf die Straßen trauen würde – so ist das jedoch hier bei uns nicht. Überhaupt nicht! Dass es in jedem Viertel „Idioten“ gibt, ist schon klar. Es gibt hier eine Mischung aus verschiedenen Mitmenschen aus allen Ländern der Welt. Aber es klappt fast immer ziemlich gut. - Was empfindet ihr, wenn ihr sowas hört, seht oder lest?
Es ist nervig, weil verallgemeinernd, traurig, ausgrenzend und unfair. Und warum? Es gibt mehr Klicks (ohne wirkliche Fakten). Die Bilder aus dem Fernsehbeitrag hätten auch in anderen Stadtteilen entstehen können.
Eine solche Berichterstattung macht uns Angst. Wir sind hier aufgewachsen, fühlen uns wohl und jetzt werden wir diskriminiert oder mindestens unser Zuhause. Wir fühlen uns dadurch abgewertet und einige haben auch Angst um ihre Zukunft, denn welcher Arbeitgeber will schon eine*n Mitarbeiter*in aus einem kriminellen Problemviertel? - Was denkt ihr zum Thema Jugendkriminalität?
Ist die Situation hier schlimmer als anderswo? Habt ihr manchmal Angst?
Natürlich gibt es hier kriminelle Jugendliche. Aber die gibt es in Bogenhausen, Pasing oder Schwabing auch. Davon berichtet bloß niemand. Wir haben einen höheren Anteil von Migranten (das passt ins Bild) und Jugendlichen (das verändert die Statistik).
Man kann in der Messestadt entspannt leben, ohne kriminelle Begegnungen und Erlebnisse.
Wir erleben hier mehr verschiedene Dinge, weil wir hier zuhause sind. Man kann aber den schrägen Typen, die es auch hier gibt, wie überall, einfach aus dem Weg gehen.
Man hört natürlich immer irgendwelche Geschichten. Die kommen aber zum Teil aus der Zeitung. Es gibt weniger Orte, um sich zu treffen als in anderen Vierteln, deswegen ist man mehr auf der Straße oder im Park (weil der ist super). Das ist aber im englischen Garten genauso.
Wir sehen alle keinen Grund zur Angst. Grundsätzlich sind im Viertel alle Menschen willkommen. Wir fühlen uns hier wohl und wollen, dass sich die anderen auch wohl fühlen.
- Was hat der Ruf der Messestadt mit eurem eigenen Leben zu tun?
Soziale Medien fangen an, über den Stadtteil herzuziehen, die Presse zieht nach.
Für uns ist das blöd. Stichwort Vorstellungsgespräch. Die, die studieren, haben es leichter, wollen sich aber auch nicht schämen für da, wo sie herkommen. - Wie nehmt ihr die Messestadt als Lebensraum wahr?
Was findet ihr gut? Was ärgert euch? Was fehlt?
Die Messestadt ist ein ganz normaler Stadtteil. Wir sind hier aufgewachsen, haben als Kinder draußen gespielt, hängen im Quax rum und haben unsere Freunde im Viertel (also ganz persönliche Bezüge). Unsere Familien leben hier. Es ist hier angenehm und es ist unsere Heimat.
Wir brauchen mehr Treffpunkte (Kulturorte, Gastronomie), nicht mehr Betreuung. Mehr Normalität, weniger soziale Versorgung.
Die Berichte könnten auch mal positive Dinge benennen (Bibliothek, Park, Nightball, Quax oder die entspannte Stimmung).
Die Polizeikontrollen sind manchmal sehr provozierend. Das löst auch Reaktionen aus. Willkürliche Kontrollen von jungen Leuten sind an der Tagesordnung (und da gibt´s ein Beuteschema). Ein Angriff auf die Würde ist aber immer erniedrigend. Klar darf man Polizist*innen nicht ohne Grund anpöbeln, aber wir finden es auch ziemlich dämlich, grundsätzlich jeden unter 30, der in ein bestimmtes Raster passt, zu Duzen und ihm das Gefühl zu vermitteln, unter irgendeinem Verdacht zu stehen… Wir wissen schon, dass in unserem Stadtteil nicht alles in Ordnung ist, aber so ist das wohl überall.
Wir würden uns einfach freuen, wenn man uns danach bewertet, wie wir sind und nicht nach dem, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen kommt.